‘‘Ich hatte große Hoffnung ins IPREG‘‘ – Ein Pflegeexperte zieht Bilanz über Realität und Reformbedarf
Unsere Mitarbeiterin Sabrina Kiel hat als Projektleitung bei der Sehner Unternehmensberatung Ajdin Telalovic, Pflegeexperte für außerklinische Intensivpflege bei der Deutschen Fachpflege, zu einem Gespräch eingeladen. Im Gespräch erläutert Telalovic, wie sich die außerklinische Intensivpflege durch gesetzliche Veränderungen wie das IPReG gewandelt hat, welche Rolle das Weaning inzwischen einnimmt, mit welchen Herausforderungen Fachkräfte konfrontiert sind und welche strukturellen Veränderungen notwendig wären, um die Versorgung künftig zu verbessern.
Kurzbeschreibung zu Ajdin Telalovic
Ajdin Telalovic ist seit 2016 in der außerklinischen Intensivpflege tätig. Nach seiner Ausbildung in Bosnien ließ er seine Qualifikation in Deutschland anerkennen und durchlief zahlreiche Weiterbildungen, unter anderem zum Pflegeexperten für außerklinische Intensivpflege und pädiatrischer Atmungstherapeut, Fachtherapeut für außerklinische Intensivpflege und Wachkoma sowie das Studium Social Management – Healthcare Service B. A.. Aktuell verantwortet er als Koordinator das Fachteam medizinische Behandlungspflege der Region Süd bei der Deutschen Fachpflege, das rund 300 Klienten in der Region Süd und insgesamt über 2.000 intensivpflichtig Betroffenen deutschlandweit versorgt. Neben seiner Tätigkeit im Unternehmen ist er als Dozent und Fachautor aktiv.
Für Telalovic ist die außerklinische Intensivpflege ein bewusst gewählter Tätigkeitsbereich – nicht zuletzt, weil hier ausreichend Zeit für individuelle Betreuung sowie die aktive Mitgestaltung der Therapie durch die Klienten besteht. Die Selbstbestimmung der Betroffenen steht für ihn dabei an erster Stelle.

Auswirkungen gesetzlicher Änderungen auf die außerklinische Intensivpflege
Telalovic : Mit dem IPReG wurden große Erwartungen an Qualitätssteigerung und Strukturaufbau geknüpft. In der Praxis sehen wir aber nach drei bis vier Jahren kaum greifbare Verbesserungen. Die Potenzialerhebungen laufen oft ins Leere oder führen dazu, dass Klienten trotz bekannter Aussichtslosigkeit erneut in Kliniken eingewiesen werden – das ist nicht nur frustrierend, sondern auch eine Ressourcenverschwendung. Strukturen und Standards fehlen und viele Fragen bleiben offen. Es braucht dringend klarere gesetzliche Rahmenbedingungen, eine bessere Kontrolle und gezielte Unterstützung.
Das IPReG wurde im Jahr 2020 mit dem Ziel eingeführt, die außerklinische Intensivpflege grundlegend zu reformieren. Es verpflichtet Leistungserbringer unter anderem dazu, Potenzialerhebungen durchzuführen, um zu prüfen, ob eine Beatmungsentwöhnung möglich ist. Damit soll gewährleistet werden, dass Klienten mit realistischer Aussicht auf eine Dekanülierung nicht unnötig lange beatmet bleiben. Auch eine gesetzliche Vorgabe zur Weaning-Einschätzung wurde eingeführt, allerdings fehlt es bis heute an verbindlichen, einheitlichen Standards zur Umsetzung dieser Anforderungen. Was in der Theorie sinnvoll klingt, scheitert in der Praxis oft an der fehlenden Abstimmung zwischen ambulantem und stationärem Bereich, an personellen Ressourcen und an der tatsächlichen Umsetzbarkeit in der Versorgungsrealität.
Die Hoffnung, dass durch das Gesetz eine übergreifende Struktur entsteht, in der Fachärzte, Pflegekräfte und Therapeuten gemeinsam handeln, hat sich laut Telalovic bislang nicht erfüllt. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist nach wie vor lückenhaft und wird durch fehlende Finanzierungsmodelle zusätzlich erschwert. Das ursprüngliche Ziel – Lebensqualität zu steigern und Ressourcen effizienter einzusetzen – bleibt damit bisher weitgehend unerreicht.
Weaning als zentrales Thema in der Therapie
Telalovic : Viele Klienten kommen erst zu uns Atmungstherapeuten, wenn ein erster Weaning – Versuch in der Klinik gescheitert ist. Unsere Arbeit beginnt dort, wo die stationäre Entwöhnung aufhört – in der außerklinischen Versorgung. Dabei geht es nicht allein um klassische pflegerische Aufgaben, sondern um eine spezialisierte, therapeutische Begleitung. Die Struktur des FMB-Teams, das wir bei der Deutschen Fachpflege etabliert haben, ist in dieser Form einzigartig: Wir begleiten die Klientinnen engmaschig, führen regelmäßig Spontanatmungsversuche durch, werten Blutgasanalysen aus und setzen telemedizinische Überwachung gezielt ein.
Dabei ist klar: Eine einmalige Einschätzung reicht nicht aus. Der Weaning-Prozess ist individuell und dynamisch – er braucht Geduld, fachliche Tiefe und interdisziplinäre Zusammenarbeit. Neben den pflegerischen und atmungstherapeutischen Leistungen binden wir auch Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie aktiv in die Versorgung ein. Ziel ist es, den Klienten so viel Lebensqualität und Teilhabe wie möglich zurückzugeben.
Ein Blick in die aktuelle Forschung scheint die Relevanz regelmäßiger Re-Evaluationen zu untermauern: So zeigt eine im Fachjournal Pneumologie (2021) veröffentlichte Studie, dass bei 73,5 % der langzeitbeatmeten Klienten eine erfolgreiche Entwöhnung möglich war – selbst nach über einem Jahr Beatmung. Telalovic mahnt jedoch zur Vorsicht bei der Interpretation solcher Ergebnisse: Die Daten stammen meist aus spezialisierten Zentren mit selektierten Klientenprofilen und sind daher nicht ohne Weiteres auf die Versorgungsrealität der außerklinischen Intensivpflege übertragbar. Interne Qualitätsauswertungen der Deutschen Fachpflege zeigen deutlich niedrigere Werte – lediglich 6–7 % der betreuten Klienten weisen demnach ein realistisches Potenzial zur Beatmungsentwöhnung auf. Diese Diskrepanz verdeutlicht nicht nur die strukturellen Unterschiede zwischen wissenschaftlicher Theorie und praktischer Umsetzung, sondern unterstreicht auch die Notwendigkeit weiterer, kontextbezogener Forschung in der ambulanten Intensivversorgung.
Infobox – Atemtherapeut ist nicht gleich Atmungstherapeut
Der Begriff ‘Atmungstherapeut’ ist nicht rechtlich geschützt und wird in der Praxis unterschiedlich verwendet – meist durch Pflegekräfte mit entsprechender Zusatzqualifikation. Demgegenüber steht der “Atemtherapeut”, ein geschützter Begriff im physiotherapeutischen Kontext mit klaren Aus- und Weiterbildungsrichtlinien.
Besonders in der außerklinischen Intensivpflege ist diese Unterscheidung relevant, da gesetzliche Anforderungen häufig nicht eindeutig formuliert sind.
Langfristiger Erfolg nach dem Weaning – ein realistischer Blick
Telalovic : In der Praxis zeigt sich, dass viele erfolgreich entwöhnte Klienten innerhalb von drei bis sechs Monaten versterben. Der Übergang in die ambulante Versorgung erfolgt häufig abrupt und ist nicht ausreichend begleitet. Die Nachversorgung nach erfolgreicher Dekanülisierung oder Entwöhnung fehlt, sodass der Anspruch weiterhin intensivpflegerische Versorgung in Anspruch zu nehmen. Während im außerklinischen Intensivpflegekontext eine lückenlose Überwachung durch Pflegefachkräfte, Pulsoximetrie und regelmäßige Blutgasanalysen möglich ist, fehlt diese engmaschige Begleitung im ambulanten Bereich meist vollständig.
Zudem sind viele Hausärzte und ambulante Dienste nicht auf die spezifischen Bedarfe ehemaliger Beatmungsklientinnen eingestellt – etwa im Umgang mit Hustenassistenten oder nichtinvasiver Beatmung. Das führt zu einer Versorgungslücke, die im schlimmsten Fall zur Entwicklung schwerer Komplikationen wie Pneumonien und letztlich zum Tod der Betroffenen führen kann.
Ein durchdachtes Entlassungsmanagement, strukturelle Nachsorgekonzepte und telemedizinisch gestützte Frühwarnsysteme könnten helfen, diese Risiken zu minimieren – aktuell fehlt jedoch die gesetzliche Grundlage zur Finanzierung solcher Modelle.
Zukunftsperspektiven der außerklinischen Intensivpflege
Telalovic : Wir bei der Deutschen Fachpflege investieren bereits heute stark in digitale Lösungen wie Telemedizin, Frühwarnsysteme und KI-gestützte Analysemodelle. Gleichzeitig bauen wir unsere internen Qualitätsstrukturen kontinuierlich aus, um Klienten die bestmögliche Versorgung zu bieten.
Doch damit allein ist es nicht getan. Es braucht politische Unterstützung, gezielte Finanzierungsinstrumente und einen Bürokratieabbau, der es Pflegekräften ermöglicht, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: die Versorgung der Menschen. Gleichzeitig gilt es, die Attraktivität des Berufsbildes zu steigern – nicht nur über Vergütung, sondern auch über bessere Arbeitsbedingungen, mehr Weiterbildungsangebote und die Einbindung erfahrener Kollegen als Ansprechpersonen vor Ort.
Für Telalovic steht fest: Die außerklinische Intensivpflege darf nicht allein über Zahlen und Kostenstrukturen bewertet werden. Im Mittelpunkt stehen immer Menschen mit individuellen Geschichten, Bedürfnissen und Potenzialen – und für diese müsse man Versorgung so gestalten, dass sie Lebensqualität ermöglicht.
Über den Autor
Sabrina Kiel
Seit 2021 bin ich bei der Sehner Unternehmensberatung tätig und leite Projekte im Bereich der ambulanten Pflege, außerklinischen Intensivpflege sowie der medizinischen Hilfsmittel. Mit über drei Jahren Erfahrung im Pflege- und Gesundheitssektor bringe ich umfassende Fachkenntnisse in meine Arbeit ein. Vor meiner aktuellen Position war ich beim Hamburg Center for Health Economics sowie bei KPMG Audit Corporate Health Care tätig, wo ich wertvolle Erfahrungen und Einblicke in die Gesundheitswirtschaft sammelte.